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Tag 4: Wie muss ein Tag sein, damit man ihn niemals vergisst?

An welche Tage des Lebens wird man sich an seinem Ende eines Lebens erinnern? Und was ist notwendig, damit er sich auf der Festplatte des eigenen Gehirns für immer einbrennt?

Es ist dunkel.

Wir sind auf über 3000m Höhe, es sind 26 Grad, wir stehen in tiefem Morast und wenn es ganz dumm läuft, wird uns gleich eine Schlammlawine ins Tal spülen. Wir wissen nicht, ob wir heute irgendwo schlafen können und wissen auch nicht, ob wir das Ziel unserer Reise erreichen werden. Genau betrachtet ist heute ziemlich viel schief gelaufen und die Natur zeigt uns gerade, wer hier das Sagen hat. Es ist anstrengend und nicht wirklich ungefährlich.

Und es ist großartig.

Strecke Tag 4

Natürlich ist es unmöglich, einen Tag in seiner Schönheit und Intensität beschreiben zu können. Denn der Schriftform fehlen gleich mehrere Dimensionen: Um einen Tag oder eine Situation wirklich nachvollziehen zu können, MUSS man dabei gewesen sein.

Der Schriftform fehlt das Gefühl. Das Gefühl für die Mühsal des Tages, das Gefühl für den Zusammenhang in einer Gruppe. In der Schriftform empfindet man nicht die Hitze des Tages, die Klarheit der Luft oder die Unsicherheit in einer unbekannten Situation. Man spürt nicht den Kampfgeist einer Gemeinschaft und sieht nicht die unglaubliche Natur, die die grandiose Kulisse bildet für die Ereignisse eines Tages.

Und auch Bilder können die Großartigkeit des Himalaya nicht wiedergeben, denn auch Ihnen fehlen mehrere Dimensionen.

Wenn ich den Handyfilm zeigen würde, den ich gerade mache, um die Schönheit der Szenerie fest zu halten, wäre es für Außenstehende eine langweilige Aufnahme von 27 Rücklichtern auf einem Bergpass.

Wenn man aber dabei war, dann spürte jeder der Beteiligten, dass wir gerade einen Tag von ungewöhnlicher Schönheit und Intensität erlebt haben, den wir mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr vergessen werden.

Aber beginnen wir den Tag chronologisch:

Wir starten unseren Tag in Kalpa auf 3600m und folgen weiter dem Fluss Sutley in der Provinz Kinnaur, der am Kailash, dem heiligen Berg Tibets entspringt, und sich seinen Weg durch enge Schluchten ins indische Tiefland bahnt. Beim 3000m hoch gelegenen Weiler Khab nimmt er dann den von Norden kommenden Fluß Spiti auf, der dem Tal „Spiti Valley“ seinen Namen gab. Entlang des Flußes verläuft die Hindustan Tibet Road, einem hoch über dem Fluss angelegten Karawanenweg von Indien nach Tibet. Wir befinden uns also auf historischen Wegen. Entlang der Felswände führt uns unser Weg. In der Tiefe tost der Fluß.
Eine atemberaubende Szenerie.

Kurvenreich führt die Straße uns in immer größere Höhen. Wir verlassen die grüne Vegetation und befinden uns irgendwann auf dem Mond. Zumindest sieht es so aus.

Dann, dort wo sich die Straße wieder senkt Richtung Sumdo, plötzlich wieder grüne Oasen. An eben einer solchen gerät unsere Fahrt ins Stocken. Eine Brücke droht einzustürzen und wird durch eine Militärbrücke ersetzt. Wir bekommen also mal wieder eine kostenlose Lektion des indischen Lebens: Man muss das Leben nehmen, wie es kommt.

Der Brückenabau wird dauern. Da es aber KEINE andere Möglichkeit der Umfahrung gibt, bleibt uns nur das Warten. Die Logik sagt uns natürlich, dass in der unwirklichen Regionen des Himalaya der Natur nur sehr wenige Straßen abgetrotzt werden können. Es gibt immer nur EINE Verbindung von A nach B.

Trotzdem ist es für den Europäer nur schwer zu begreifen, dass eine defekte Brücke TATSÄCHLICH bedeutet, dass man warten muss, bis diese aufgebaut ist. Ein anderer Weg nach Kaza, dem Ziel unserer heutigen Etappe würde mehrere Tagesreisen in Anspruch nehmen. Die Logik versteht es, das Gefühl mag es nicht glauben.

Ein Problem, dass uns in den kommenden Tagen noch viel einschneidender beschäftigen sollte.

So warten wir also mit einer Gemeinschaft von einigen weiteren Hundert Reisenden bei senkender Hitze und warten bis die Brücke in Handarbeit(!) aufgebaut wird. Handarbeit im Wortsinne: Die tonnenschwere Militärbrücke wird von mehreren Dutzend Strassenarbeitern mit Muskelkraft in die richtige Position gebracht.

Ein Unterfangen, welches vermuten lässt, dass wir mit einer mehrstündigen Zwangspause zu rechnen haben, auch wenn der ansccheinend leitende Ingenieur uns alle halbe Stunde versichert, dass es nur noch eine halbe Stunde dauern würde.

Da es sich in der Reise-Erzählung sehr gut macht, wenn man zu Hause berichten kann, dass man unentgeldlich bei einem indischen Brückenbauprojekt mit gearbeitet hat, schleppen wir noch ein paar für eben diesen Brückenbau notwendige Bretter von A nach B und legen uns dann in einen nahe gelegenen Apfelgarten zum wohlverdienten Mittagsschlaf. Gemäß der indischen Alltagsphilosophie: Nehme die Dinge wie sie kommen und mache das Beste draus.

Mehrere Stunden dauert die Brückenschiebeprozedur.  Dann aber können zumindest die Motorräder die noch etwas behelfsmäßige Konstruktion überqueren. Dies unter dem Jubel der Strassenabauarbeiter, deren Jubel für uns eher ein berechtigter Jubel für ihre eigenen Leistung ist.

Wir bejubeln uns auch gegenseitig, weil wir gemeinsam einen kleinen Sieg über die Naturkräfte erreicht haben.

Wir setzen also unsere fantastische Reise in fantastischer Landschaft fort und erreichen in der Dämmerung den Ort Tabo.

Noch 50km bis Kaza.

50km Landstraße? Sollte doch schnell zu erledigen sein, denkt sich der geneigte Leser auf seinem Sofa im guten, alten Europa. 50km im Himalaya, bei Dunkelheit und entlang einer steil abfallenden Bergstraße sind allerdings ein echte Herausforderung. Insbesondere wenn anhaltende Regenfälle in den Vortagen mehrfach Erdrutsche ausgelöst haben.

Unsere 27 Mann starke Gruppe besteht aus durchweg guten Motorradfahrern und so beschließen wir, diese Nachtfahrt von Tabo nach Kaza wenigstens zu versuchen. Wie sich zeigt, wurde die Strecke an vielerlei Stellen von Schlammlawinen überspült. Wir überwinden Passagen mit kniehohen Morast und kämpfen uns Meter für Meter voran.

Die Natur macht es uns schwer heute Nacht und zeigt uns deutlich, wie unbedeutend unser Wunsch nach einem warmen Bett für sie ist. Sie zeigt uns aber auch gleichzeitig wie großartig sie ist: Mr. Moti will rauchen und ich halte mit ihm aus Solidarität. Wir haben die Motorräder ausgeschaltet und beobachten wie ein mittlerweile zusammen geschweißter Haufen versucht der Natur zu trotzen. Im Dunkeln zieht sich vor uns eine moderne Karawane auf der Hindustan Tibet Road. Dies ist der Zeitpunkt an dem ich mein Handy zücke und dies ist auch der Moment den ich nie wieder vergessen werde. Es zieht sich eine Kette von 27 Rücklichtern entlang der Himalayaberge.

Am noch schwach erleuchteten Himmel sieht man die Gebirgsspitzen der 6000er. Es weht ein leichter, warmer Wind und wir Siebenunzwanzig sind im Schritttempo auf dem Weg zu einer Übernachtungsmöglichkeit. Links von uns geht es einige hundert Meter abwärts und unten in der Schlucht hört man das Rauschen des Flusses. Neben mir steht mein indischer Freund und Motorradnomade Mr. Moti und raucht schweigend.

Und ich sauge all dies so intensiv auf, dass es sich auf meiner Festplatte für immer einbrennen wird, als ein Moment und dadurch auch als einen Tag, den ich niemals vergessen werde.

Es tut mir leid, dass ich ihn nicht besser beschreiben kann, aber es fehlt halt mir das Können, der Schriftform und der Kamera ein paar Dimensionen.

Aber es gibt immerhin 26 andere, die fühlen können, was ich zu beschreiben versuche.

 

Wenn wir Kalpa nicht erreichen, werden wir im Freien übernachten müssen.

Erstaunlicherweise gibt es in unserer Gruppe aber niemanden, der daran etwas zu kritisieren hat.

Denn es kommt wie es kommt. Und sich über irgend etwas zu ärgern, würde nichts verändern.

Letztendlich müssen wir es dann einsehen: Der Morast ist zu tief und das Risiko ist zu hoch. Kalpa und unsere Betten nah, aber doch weit entfernt. Wieviel Glück wir gehabt haben, dass wir uns noch auf der Strasse befinden, wird sich erst am nächsten Tag zeigen. Wir kämpfen uns zurück nach Tabo und Buddhi und Mr. Moti gelingt es sogar noch, für unsere große Gruppe Unterkünfte und sogar noch ein nächtliches Essen zu organisieren.

Als hätte der Tag nicht bereits genügend Mißgeschicke für uns bereit gehalten, fällt nun auch noch der Strom aus. Mit batteriebetriebenen Lichtern sitzen wir im Garten einer einfachen Behausung bei einem einfachen Essen und wir wissen nicht, wann wir unsere Reise werden fortsetzen können.

Selten hat es so geschmeckt.

Und, das hat uns der Himalaya jetzt schon gelehrt, es wird morgen oder am Tag nach morgen schon irgendwie weiter gehen. Ein anstrengender, großartiger Tag geht zu Ende. Ich sitze in einem armseligen Garten mitten im Nichts und bin ebenso tief zufrieden wie weitere 26 Männer. Wir alle werden außergewöhnlich gut schlafen.

Wie muss also ein Tag sein, den man niemals mehr vergisst?

So wie unserer heute.

 

Tag 5 an dieser Stelle am kommenden Sonntag, den 03.09.

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