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Tag 12: ACHTUNG: Geschichte!

Warum ist Kargil schwarzweiß?

Wenn ihr aus alten Schultagen noch eine anhaltende Allergie gegen Geschichte haben solltet, solltet ihr schnell weiter klicken. Wir wollen euch ja nicht verärgern.

Wenn ihr aber ein wenig mehr die Region und ihre Menschen verstehen und noch einen kleinen Tipp zum Thema Reisen erhalten wollt, empfehlen wir euch trotz des heutigen Geschichts-Exkurses dran zu bleiben.

Gerade eben noch unser fantastischen Cinemascope-Anfahrt nach Kargil; jetzt erwische ich mich dabei, wie ich auf unserer Abenderkundung von Kargil den Fotomodus zum ersten Mal auf dieser Tour auf schwarzweiß(!) stelle.

Kargil ist in einer schwer definierbaren Form bedrückend.

Im Gegensatz zum weltoffenen, internationalen Leh, Zentrum der Region Ladakh, wirkt die Stadt auf mich (uns) in irritierender Weise abweisend. Bei der späteren Betrachtung der Fotos frage ich mich, was wohl die Ursache für dieses „schwarz-weiß-Gefühl“ war? Denn die Menschen -wie immer besonders die Kinder- waren freundlich und neugierig, wie immer auf unserer fantastischen Tour.

Und die Ursachen für meine verzerrte Wahrnehmung Kargils liegen wohl in mir selbst und dem Wissen mit dem ich nach Kargil gekommen bin:

Die Stadt war vor nicht allzu langer Zeit noch Kriegsgebiet.

Sie ist stark von Militär geprägt.

Das Auswärtige Amt hat auch schon mal vor der Reise nach Kargil gewarnt.

Und sie ist muslimisch.

In der Schulzeit erschien uns Geschichte lange Zeit wie ein (unnötiger) Vokabeltest über die Vergangenheit: Das Auswendiglernen von Zahlen, (vermeintlich) ohne Bezug zur eigentlichen Lebenswirklichkeit. In unserem Leben und in unserer (westdeutschen) Lebensrealität ist uns bis heute nur selten bewusst, dass die geschichtlichen Entscheidungen der Vergangenheit starken Niederschlag finden in unserem täglichen Leben.

Hier in Kargil wird für uns fast körperlich spürbar, dass Entscheidungen die vor Jahrzehnten getroffen wurden, einen langen Nachhall haben. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum wir (ich) uns in Kargil erstmals auf diesem Trip ein wenig unwohl fühlten und warum die Stadt schwarz-weiß erschien, müssen wir weit ausholen und auch die Geschichte als Erklärung bemühen. Schließlich soll Reisen und sogar Reiseberichte lesen ja auch manchmal ein wenig bilden.

Darum heute mal ein wenig Geschichte, die für das Verständnis der von uns durchfahrenen Regionen Jammu und Kashmir notwendig ist: Die Teilung Indiens. 80 dramatische Jahre in 3min, freundlich unterstützt durch Wikipedia:

Unter der Teilung Indiens versteht man die Aufteilung des vormaligen Britisch-Indien aufgrund religiöser und ethnischer +Auseinandersetzungen, die zwischen dem 14. und 15. August 1947 zur Gründung zweier unabhängiger Staaten führten: Pakistan und Indien. Pakistan bestand bis 1971 aus zwei Teilen: Westpakistan (das heutige Pakistan) und Ostpakistan (das heutige Bangladesch).

Die Aufteilung des ehemaligen British Indien in zwei Herrschaftsgebiete war im Indian Independance Act festgeschrieben worden und markierte das Ende der britischen Kolonialherrschaft auf dem indischen Subkontinent.

Im Verlauf des Teilungsprozesses kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die zum Tod von mehreren hunderttausend Menschen führten. Einige Autoren sprechen sogar von bis zu einer Million Opfern oder mehr. Etwa 20 Millionen Menschen wurden im Zuge der Aufteilung Britisch Indiens deportiert, vertrieben oder umgesiedelt.

 

Karte-Kargil

Im Zuge der Teilung war es den bis dahin selbstverwalteten so genannten Fürstenstaaten Jammu und Kahmir im Indian Independence Act 1947 freigestellt, zu welcher der beiden neu entsstandenen Staaten (Indien oder Pakistan) sie sich bekennen wollten, oder ob sie es vorzogen, weiterhin als unabhängige Fürstenstaaten bestehen zu bleiben.

Die aus dieser Frage resultierenden Entscheidungen der Fürstentümer Jammu und Kaschmis führten zum 1. Indisch-Pakistanischen Krieg von 1947, dem später weitere territoriale Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten Indien und Pakistan folgten. Wir können die DANE TROPHY TRANSHIMALYA wahrscheinlich nur aufgrund dieses Konfliktes durchführen. Ohne die militärische Bedeutung der Region, würden die extrem aufwändige Pflege des Strassensystems mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geleistet und finanziert werden.

Der endgültige Verlauf der neuen Grenzen wurde entsprechend eines von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten festgelegt, das von dem Londoner Rechtsanwalt Sir Cyril Radcliffe erstellt worden war und später als Radcliffe-Linie berühmt werden sollte. Die Radcliffe-Linie wies dem neuen Pakistan zwei Gebiete zu, die durch das Territorium Indiens ca. 1600 km voneinander getrennt waren. So entstanden Ostpakistan und Westpakistan, wobei später aus Ostpakistan das heutige Bangladesch und aus Westpakistan die heutige Islamische Republik Pakistan hervorgehen sollten. Indien bestand aus den von einer Hindu- oder Sikh-Mehrheit bevölkerten Regionen des Britisch-Indien, und Pakistan aus denjenigen Gebieten, die von einer Moslem-Mehrheit bevölkert waren. Nach der Bekanntgabe des genauen Grenzverlaufes wurden Sir Cyril Radcliffe Entscheidungen wurde diese sowohl von Seiten der Hindus als auch der Moslems zwar scharf angegriffen, letztlich aber von Nehru und Jinnah akzeptiert.

Am 18. Juli 1947 verabschiedete das Britische Parlament trotzdem den Indian Independence Act, in dem die Teilung Britisch-Indiens in zwei Staaten schließlich bestätigt wurde. Diese Entscheidung und ihre Folgen prägen das leben der Menschen im Kaschmir bis heute. Und sie prägt auch ein wenig unsere Tour. Auf jeden Fall prägen sie die Stadt Kargil. Denn es ist gerade 15 Jahre her, dass die Stadt Kargil einem bewaffneten Konflikt ihren Namen geben mußte. Einem Konflikt, in dem die Stadt von pakistanischen Truppen niedergebombt wurde.

Denn: Der Kargil-Krieg war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan um die von beiden Seiten beanspruchte Region Kaschmir im Jahr 1999. Unmittelbarer Anlass war das Eindringen bewaffneter Einheiten von pakistanisch kontrolliertem auf indisch kontrolliertes Territorium. Indien beschuldigte Pakistan, diese Einheiten zu unterstützen. Der Krieg endete mit einem Erfolg für Indien, löste jedoch die seit 1947 bestehende Kaschmirfrage nicht.

Einen besonderen Stellenwert erhält der Konflikt dadurch, dass beide Staaten zum Zeitpunkt des Ausbruchs bereits Atommächte waren. Trotz einer im Februar 1999 unterzeichneten Deklaration von Lahore, in der sich beide Länder auf eine friedliche Lösung der Kaschmirfrage einigten, überquerten etwa zeitgleich Bewaffnete aus dem pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs die Waffenstillstandslinie. Sie besetzten Bergstellungen, die die indische Armee im Winter auf Grund der extremen klimatischen Bedingungen üblicherweise verlässt. Bis Ende Mai 1999 zog Indien daraufhin Truppen und Kriegsmaterial in der Region zusammen. Am 26. Mai begann Indien schließlich eine Offensive (Operation Vijay). Von höchster Wichtigkeit für Indien war der Schutz des National Highway 1A von Srinargar nach Leh (also genau der Strecke auf der wir uns in diesen Tagen bewegen), der als Nachschub- und Aufmarschroute diente. Ab Anfang Juni gelang es Indien, die Gegner vor allem durch den Einsatz von Haubitzen die pakistanischen Truppen allmählich zurückzudrängen. Auf eine Verfolgung über die Waffenstillstandslinie hinweg wurde bewusst verzichtet, um eine weitere Eskalation und Ausweitung zum offenen Krieg zu vermeiden. Bis zum 11. Juli wurde der Großteil der besetzten Stellungen zurückerobert. Die Kampfhandlungen wurden am 14. Juli eingestellt. Etwa 30.000 indische Soldaten, einschließlich paramilitärischer Einheiten, waren allein in Kargil im Einsatz, die Truppenstärke in ganz Kaschmir wurde auf 730.000 erhöht. Auf indischer Seite kamen etwa 500 bis 600 Soldaten ums Leben. Verlässliche Schätzungen zur Zahl der Toten auf pakistanischer Seite gibt es nicht.

15 Jahre später, zum Zeitpunkt unserer Tour ist in der Region und besonders in Kargil eine angespannte Atmosphäre zu spüren. Überall ist Militär sichtbar und die Infrastruktur der Stadt ist auch für indische Verhältnisse rückständig. Hinzu kommt noch eine -zu meinem eigenen Bedauern – Verunsicherung im eigenen Kopf: Erstmals sind wir in einer muslimischen Region und -obwohl das tatsächliche Verhalten der Bevölkerung dazu keinerlei Anlaß gibt, zeigen die -unter dem Deckmantel des Islam- verübten Terroranschläge des letzten Jahrzehnts ihre Wirkung. Zögerlicher als sonst durchstreifen wir am Abend die Strassen Kargils.

Es ist eine Banalität, dass der Mensch und Regionen geprägt werden durch Kultur, Politik, Religion und Geschichte. Der interessante Aspekt unseres 12. Tourtages war aber, wie diese Prägungen innerhalb von wenigen Kilometern zu starken atmosphärischen Veränderungen führen können. Und besonders interessant war es, dass sich die Wahrnehmung eines Ortes zu sehr großen Teilen in unseren Köpfen abspielt.

Denn durch einen Automatismus in meinem Bildbearbeitungsprogramm wurden die in Kargil schwarweiß geschossenen Bildern am heimischen Computer in farbige gewandelt. Und schon hatte auch Kargil die gleiche qirrlige Intensität und Aufgeschlossenheit wie das buddhistische Ladakh. Im Prinzip war es so auch in Kargil: Schiebt man die eigenen Vorurteile beiseite, so sind auch die Menschen in Kargil tolerant, fröhlich, neugierig und offen. Natürlich gab es auch für das muslimische Alkohlverbot eine Lösung: Europäische Preise und Alufolie um die Flasche, schon hatten wir unser obligatorisches Kingfisher. Begleitet von ein paar Brocken Deutsch: „Bitte schön“. Danke.

Wir sollten eine auf unserer Reise noch eine ähnliche Erfahrung machen. Srinargar ist eine politisch extrem umstrittene Region, vor dessen Besuch das auswärtige Amt in regelmäßigen Abständen gewarnt hat. Entsprechend langwierig und genau sind die Sicherheitvorkehrungen bei der Abreise. Auf einem kleinen Regionalflughafen brauche wir 3,5 Stunden zur endgültigen Abfertigung. Die Stimmung zwischen Sicherheitspersonal und unserer Gruppe war angesichts der Befürchtung den Flug zu verpassen-vorsichtig formuliert- gereizt. Bis Hansi uns mal kurz zeigte, was passiert, wenn man sich nicht von seinen Vorurteilen leiten läßt, sondern offen auf die Menschen zugeht („I love India“).

Aber diesen Film zeigen wir erst beim nächsten Mal.

Die Lehre aus Tag 12: Vergesst die Vorprägungen in eurem Kopf. Meistens ist das Leben farbig und die tatsächliche Begegnung mit den Menschen vor Ort ganz anders, als die Befürchtungen in unseren Köpfen es erwarten lassen.

Auch wenn die jüngsten Ereignisse und schrecklichen Bilder rund um die ISIS uns wieder daran zweifeln lassen (müssen). Der ISIS ist nicht der Islam.